Verpasste Chancen – die neue Rüstungsstudie des Wirtschaftsministeriums

Schützenpanzer Puma von KMW – Foto: Kraus-Maffei Wegmann /Medienfreigab

Schützenpanzer Puma von KNDS – Foto: KNDS / Medienfreigabe

Seit Kurzem gibt es die zweite Studie zur Lage der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (SVI) Deutschlands; beauftragt vom Bundeswirtschaftsministerium. Kontext der sogenannten SVI-Studie ist die Ambition der Bundesregierungen seit 2014 Deutschlands Wehrwirtschaft als Werkzeug der Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln und dafür besser aufzustellen. Vor allem durch die Förderung von Rüstungsexport und Schlüsseltechnologien. Diese werden im Strategiepapier zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie von 2020 festgelegt. Im Gegensatz zur Vorgängerstudie von 2015 wurde die neue nicht frei abrufbar veröffentlicht. Sie ging nur an einen beschränkten Adressatenkreis, u. a. Bundestag und Bundesrat. Angeblich könne die Studie „Informationen preisgeben, die die innere und äußere Sicherheit Deutschlands tangieren“, so eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums gegenüber dem Autor. Diesem liegt die Kurzfassung der Studie vor, die „deren wichtigsten Kernergebnisse zusammenfasst“, wie es in der Einleitung heißt.

Das zentrale Ergebnis der SVI-Studie: Die strategische Steuerung der deutschen Wehrwirtschaft ist für die Werkzeug-Ambition weiterhin völlig unterentwickelt. Auch die Förderung der Schlüsseltechnologien ist suboptimal aufgestellt. So fließen die meisten Forschungsmittel in Bereiche, „in welchen die deutschen SVI bereits über starke Kompetenzen verfügt, wie Sensorik, den Fahrzeugbau oder den Marineschiffbau“, heißt es in der Studie der beauftragten Beratungsagenturen Oliver Wyman und IW Consult. Bestehende Systeme werden also mit großem Aufwand inkrementell verbessert. Vergleichseise wenig Mittel fließen dagegen in Potenzialbereiche wie Elektronische Kampfführung und Künstliche Intelligenz.

Ostdeutschland spielt keine Rolle

Die erste Studie vor fast zehn Jahren erfasste nur die klassische Verteidigungsindustrie. Das heißt Panzerhersteller wie Rheinmetall und Marineschiffbaufirmen wie Lürssen nebst ihrer Zulieferernetzwerke. Die neue Untersuchung bezieht auch das weite Feld der zivilen Sicherheitsindustrie mit ein. Dazu zählen beispielsweise Firmen, die Geräte zur Erfassung von Biometrie-Daten herstellen oder Lösungen zur Waldbrandbekämpfung. Doch die Masse bilden laut SVI-Studie kleine Wach- und Sicherheitsdienste, die 70 Prozent der Wertschöpfung dieses Zweigs ausmachen. Die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie Deutschlands liegt nicht im Bereich der Spitzentechnologie, sondern ist auf dem Niveau „hochwertiger Technik“ darunter angesiedelt. Dominantes Bundesland ist Bayern. In diesem wird ein Drittel der direkten bundesweiten SVI-Wertschöpfung erwirtschaftet. Zudem ist die deutsche Rüstungswirtschaft eine westdeutsche. Im Westteil der Bundesrepublik wird nahezu die gesamte Patentleistung der SVI erbracht. Ostdeutschland spielt fast keine Rolle.

Schwach in neuen Rüstungsfeldern

Die Stärken der deutschen Rüstungsindustrie liegen bei klassischen Hauptwaffensystemen wie gepanzerten Fahrzeugen, U-Booten und Marine-Schiffen, so die Studie. Hier genießt die Industrie die geringsten Abhängigkeiten. Vor allem bei Mikroelektronik kann sie sich auf eine breite inländische Zulieferbasis stützen, „welche in diesem Maß selbst in den USA nicht existiert“. Speerspitze der hiesigen Wehrindustrie ist der Landbereich. Hier setzten die deutschen Hersteller bei der Digitalisierung von Waffensystemen weltweit Standards. Auch der Digitalisierungsrad der Landsystem-Produktion sei hoch. Hier profitiert die Branche von der starken Anlehnung an die Automobilindustrie. Im Marine- und Fluggerätebau ist die Digitalisierung der Produktion dagegen unterentwickelt.  

Während Deutschlands Wehrindustrie in den etablierten Rüstungssektoren gut positioniert ist, sieht es in neuen Feldern schlechter aus. Bei softwarebasierten Wehrprodukten wie Führungssystemen und elektronischer Kampfführung sei Deutschland schwach aufgestellt. Bei digitaler Datenerfassung und Analyse sowie bei Technologien zur Cybersicherheit liege die hiesige Sicherheits- und Verteidigungsindustrie „gegenüber der Weltspitze zurück“, heißt es in der Studie. Laut deren Analyse seien Technologien für Autonomie so bedeutsam, dass sie in die nationalen Schlüsseltechnologien aufgenommen werden sollten. Bei softwareintensiven Wehrprodukten wie KI-Lösungen gibt es eine ausgeprägte Abhängigkeit vom Einkauf am Weltmarkt. „Dies lässt sich zumindest teilweise auf die zögerliche Debatte um den Einsatz von KI in der Bundeswehr zurückführen, die es deutschen Firmen erschwert, planungssicher KI-Lösungen zu entwickeln“. Kauft Deutschland Waffensysteme, an deren Technologien es Mangel hat, sollte es verstärkt versuchen, dabei Technologietransfer zur Bedingung zu machen, empfehlen die Autoren der SVI-Studie.

Falsche Star-up Förderung

Folgt man der Studie, ist eine zentrale Schwäche der deutschen Wehrindustrie, dass ihr Ökosysteme für die neuen Wehrtechnologien fehlen. Die Forschungsleistung läuft in Deutschland bis jetzt in etablierten Strukturen von Systemintegratoren wie KNDS und Rheinmetall mit ihren Zulieferern. Praktisch keine Rolle spielen Start-ups. Solche, die auf die Streitkräfte spezialisiert sind wie in den USA, sind hierzulande kaum vorhanden. Statt nur Fördermittel für ihre Arbeit zu vergeben, sollten Start-ups in Deutschland mit Aufträgen versorgt werden, um sie in das Ökosystem der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie einzubinden, empfehlen Oliver Wyman und IW Consult. Um die Innovation für die SVI anzutreiben, haben die Studien-Autoren zwei Vorschläge: Da die zivile Industrie heute Innovationstreiber sei, sollten zivile Forschungsprogramme für die militärische Forschung geöffnet werden. Zudem solle ein „Büro“ eingerichtet werden, dass zügig Forschungs- u. Entwicklungsgelder bereitstellt sowie Aufträge zur Kleinserien-Produktion finanziert.

Wachstumspotenzial elektronische Kampfführung

Wie bewertet die SVI-Studie die Exportpotenziale von Wehrtechnik made in Germany? Bei komplexen Produkten wie U-Booten, Fluggerät, Hochwertmunition und Sensorik ist die Wettbewerbsfähigkeit weiterhin hoch. Auch im wichtigen Feld der Entwicklung von Hyperschall-Waffen und deren Abwehrsystemen könne die deutsche Industrie bestehende Kompetenzen gewinnbringend einbringen – zum Beispiel bei den Werkstoffen. Tatsächlich ist die deutsche Industrie in beiden Konsortien vertreten, die im EU-Rüstungsprogramm „Twister“ um die Entwicklung eines Interceptors gegen Hyperschallwaffen wetteifern.

Bei Robotik und Autonomie sowie aktiver Cyber-Abwehr habe sich die deutsche Industrie „anfänglich gut positioniert“. Doch inzwischen bedürfe es staatlicher Nachfrage, um diesen Sektor weiterzuentwickeln, damit internationale Wettbewerbsfähigkeit erreicht werde. Im wichtigen Bereich kleiner Drohnen für militärische Zwecke sieht die Studie „eine wachsende Kompetenz der deutschen Industrie als Effekt der Bundeswehr-Beschaffungsstrategie“. In der Tat verfügen die deutschen Streitkräfte über Drohnen deutscher Hersteller. Ein Beispiel ist die Aufklärungsdrohne Mikado von AirRobot. Das KSK erhält künftig die Vector-Drohne von Quantum Systems. Allerdings ist die UAV-Bewaffnung der Bundeswehr in Modellen und Stückzahlen bis jetzt überschaubar.

In der elektronischen Kampfführung – kurz EloKa – sieht die Studie ebenfalls noch Wachstumspotenzial für die deutsche Industrie. Hier müsse eine nationale Kompetenz aufgebaut werden. Kontext dürfte hierzu sein, dass die NATO-Staaten in der EloKa-Bewaffnung massiven Nachholbedarf haben. Die Bundeswehr ist hier mit ihrer angelaufenen Rüstung einer Eloka-Version des Eurofighters Vorreiter. Exportfelder mit erwarteter höherer Nachfrage, in denen die deutsche Wehrindustrie nicht stark aufgestellt sei, sind Cybersicherheit und der Schutz von kritischer Infrastruktur.

Um den Rüstungsexport zu stärken, empfiehlt die SVI-Studie zu den bisherigen Hermes-Bürgerschaften zusätzlich Exportkredite, um den Verkauf anzuschieben und nicht nur abzusichern. Zudem sollte Deutschland nach US-Vorbild ein Foreign Military Sales Verfahren einführen. Das würde es anderen Staaten erlauben, bei der Bundeswehr getestete und eingeführte Waffen unkompliziert zu kaufen. Zur Versorgung mit kritischen Rohstoffen und Computerchips wären Regierungsvereinbarungen mit Ländern der Lieferkette wichtig. Über Exportgenehmigungen sollte in ein bis zwei Monaten entschieden werden. „Das wäre erstrebenswert, um sicherzustellen, dass deutsche Unternehmen auch in der nächsten Generation von internationalen SVI-Produktentwicklungen in der Lieferkette berücksichtigt werden“.

Osteuropa wichtigster Markt

Bei Exportregionen bewertet die SVI-Studie Osteuropa als wichtigen Wachstumsmarkt für deutsche Rüstungsgüter. Vorteilhaft sei hier der bleibend hohe Bedarf nach schweren Waffensystemen. Auch gebe es eine steigende Nachfrage beim Katastrophenschutz, „wo deutsche Sensorhersteller und Systemintegratoren bereits diverse Systeme auf dem Weltmarkt anbieten“. Im größten potenziellen Absatzmarkt für Wehrgüter, den USA, wird Deutschlands Industrie weiterhin nahezu chancenlos bleiben, da dieser Markt massiv abgeschirmt ist. Allerdings sehen die Studien-Verfasser Chancen bei ziviler Sicherheitstechnologie in den USA. Hier hätten US-Behörden umfangreiche Budgets. Der Markteintritt deutscher Unternehmen könne über die Bundesministerien gefördert werden. In der zentralen Wachstumsregion für Wehrgüter Asien solle die Bundesregierung den deutschen Export gezielt mit Rüstungs- und Sicherheitskooperationen fördern. Als Beispiele wird die Kampfjet-Allianz Großbritanniens mit Italien und Japan genannt sowie der AUKUS-Pakt Australiens mit den USA und Großbritannien, mit dem das der Pazifik-Staat seine Streitkräfte modernisieren will.

Fehlende Rüstungsstrategie

Mit Blick auf die Gestaltung und Steuerung einer Rüstungsstrategie Deutschlands kommt die Studie zu ernüchternden Ergebnissen. So reiche die ressortübergreifende Koordination in der Bundesregierung nur für ein einheitliches Lagebild, aber kein stringentes Handeln. Es fehle eine institutionelle Wissensbasis für schnelle Reaktionen, heißt es in der Studien-Zusammenfassung. „Meist muss jede Fragestellung von Grund auf neu evaluiert werden“. Laut den Studien-Autoren würde eine „permanente Koordinierungseinheit“ Sinn ergeben, um sicherheitspolitische Prozesse zu steuern. In der Fachwelt wird dieser Ansatz seit längerem vorgeschlagen – oft unter dem Schlagwort „Rüstungskoordinator“. Andere Staaten wie Australien, Großbritannien und die USA koordinierten ihre Wehrindustrien zum Erreichen außenpolitischer Ziele über nationale Sicherheitsräte, so die SVI-Studie – „bislang eine verpasste Chance für die Bundesrepublik Deutschland“.

Folgt man der Zusammenfassung der neuen SVI-Studie, erörtert jene die bekannten Schwächen der Rüstung Deutschlands und Lösungsansätze. Warum diese Studie die innere und äußere Sicherheit tangieren soll, ist nicht ersichtlich. Klar ist dagegen: Die angestrebten, aber ausstehenden Verbesserungen sind ein Ballast für Deutschlands Sicherheitspolitik. Darin dürfte der Grund liegen, warum die SVI-Studie vom grün geführten Wirtschaftsministerium nicht öffentlich gemacht wird. Sie zeigt, dass die Gestaltung einer strategischen deutschen Rüstungspolitik auf der Stelle tritt. Zumal Vorschläge wie Exportkredite für Waffen dem Vorhaben eines Rüstungsexportkontrollgesetzes widersprechen. Das war zu Beginn der Legislatur das zentrale Projekt der Grünen für die Sicherheitspolitik der Ampel-Regierung. Doch der Ukraine-Krieg hat das Vorhaben zerschlagen.

(Eine Kurzfassung dieses Beitrags erschien vorab im Security Table Newsletter.)

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