Zwei Jahre kein Piraten-Angriff vor Somalia – welchen Sinn hat noch ATALANTA?

Am kommenden Donnerstag, dem 12. Mai, steht im Bundestag die Entscheidung an, ob das ATALANTA-Mandat der Bundeswehr erneut verlängert wird. Die Marine-Operation am Horn von Afrika ist so etwas wie das Aushängeschild der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auslöser der Mission war 2008 die grassierende Piraterie vor Somalia. Regelmäßig  hatten somalische Piraten Handelsschiffe gekapert und deren Besatzungen als Geiseln genommen.

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Bald wieder erfolgreich? Somalische Piraten – Bild: Jason R. Zalasky / Wikipedia / CC-Lizenz

Seitdem kreuzt ein Flottenverband der EU vor Somalia mit zwei Hauptaufgaben. Erstens: ATALANTA-Kriegsschiffe eskortieren UN-Transporte mit Hilfsgütern für die Menschen in Somalia. Zweitens sollen Piratenüberfälle in dem Seegebiet verhindert werden. Die Strategie dafür: Präsenz und Kontrollen auf dem Meer sollen die Piraten abschrecken und deren Operationsräume einschränken. Das Lagebild heute: die Piraterie vor Somalia ist de facto nicht mehr vorhanden Sebastian Fischborn, Sprecher im Einsatzführungskommando der Bundeswehr für maritime Einsätze: „Der letzte Angriff im Seegebiet datiert auf den Februar 2014.  2015 hat es also  keinen einzigen Piratenangriff mehr im Einsatzgebiet am Horn von Afrika gegeben, verglichen mit 176 im Jahr 2011. Und deshalb werten wir auch die Mission ATALANTA als eine sehr erfolgreiche Mission.“

EU-Marinemission: nicht das effektivste Mittel gegen Somalias Piraten

Wenn es keine Piratenangriffe mehr gibt, muss die Frage gestellt werden, inwieweit ATALANTA noch Sinn macht, beziehungsweise, wie die Marineoperation künftig aussehen soll.  Schließlich ist nicht nur die Deutsche Marine mit anderen Aufgaben bereits an der Grenze der Belastbarkeit. Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion hat da eine klare Position: „Zum Kampf gegen Piraterie ist dieses Mandat kaum mehr notwendig. Und deshalb ist es gut, wenn jetzt schon im Mandat steht, dass es zu überprüfen ist, umgewandelt wird, oder, vielleicht noch besser, ganz ausläuft.“

Für Arnold ist der Rückgang der Piraterie keineswegs in erster Linie auf die EU-Militäroperation Atalanta zurückzuführen. Dass die Piraten in der Region nicht mehr aktiv sind, hat für den SPD-Politiker einen  ganz anderen Grund: „Seit die privaten Reeder Sicherheitsfirmen an Bord haben, die eben, wenn ein Schlauchboot mit Piraten naht, sich wehren können, auch mit Waffeneinsatz und Androhungen wehren können, seitdem ist die Piraterie tatsächlich nicht zur zurückgegangen, sondern hat aufgehört.“ Fakt ist: Ein Schiff mit bewaffneten Sicherheitskräften an Bord ist  von den somalischen Piraten noch nie geentert worden. Diese Eigensicherung der Seefahrer ist offensichtlich höchst effektiv. Trotzdem könnte es  ein Fehler sein , bei der Piratenabwehr vor allem auf die Initiative der Reeder zu setzen, warnt  Kerstin Petretto, Expertin für Piraterie am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik: „Es fahren zwar meistens private Sicherheitskräfte mit; aber deren Zahl wurde auch schon wieder herunter gefahren. Zum anderen werden auch schon wieder die Geschwindigkeiten der Schiffe herunter gefahren und die Schiffe fahren wieder näher an der Küste Somalias entlang und die Reeder denken eben auch: es gibt ja keine Angriffe mehr, die Piraten sind nicht mehr aktiv, also können wir hier wieder unsere Kosten senken.“

Piratenbekämpfung wird zurückgefahren

Auf das Betreiben der Schifffahrtsverbände wurde die sogenannte „High-Risk-Zone“ vor Somalia Ende letzten Jahres um die Hälfte verkleinert. Die Versicherungsgesellschaften verlangen von den Reedereien bei Fahrten in der „High-Risk-Zone“ höhere Prämien und empfehlen, dieses Seegebiet nur mit  Sicherheitskräften an Bord zu passieren,  so der Verband Deutscher Reeder gegenüber NDR-Info.

Doch nicht nur bei der maritimen  Wirtschaft geht die Bereitschaft zurück, gegen Piraten vorzugehen. Auch  die  internationalen Staatengemeinschaft hat ihre Anstrengungen mittlerweile reduziert. Für die EU-Operation ATALANTA, die zurzeit unter deutschem Kommando steht, waren  2009 noch 13 Kriegsschiffe aufgeboten worden. Aktuell sind es nur noch zwei Fregatten ein Tanker und ein Patrouillenboot. Hinzu kommen zwei Aufklärungsflugzeuge, stationiert in Djibouti. Das Einsatzgebiet dieser Miniflotte ist wohlgemerkt anderthalbmal so groß wie Europa.

Für die Piratenbekämpfung gibt es neben ATALANTA noch die Combined Task Force 151 unter US-Führung und den NATO-Flottenverband „Ocean Shield“. Der NATO-Operationsplan sah einst zehn Kriegsschiffe vor; inzwischen existiert der Verband nur noch auf dem Papier. Auf Nachfrage von NDR Info erklärte die NATO,  zurzeit patrouilliere kein einziges Schiff für „Ocean Shield“ vor Somalia. Auch wenn es seit langer Zeit keine Piratenüberfälle mehr gegeben hat: Für die Konfliktforscherin Kerstin Petretto könnte sich das Problem sehr schnell wieder stellen, wenn die internationale Gemeinschaft ihr langjähriges Engagement immer weiter zurückfährt: „Die somalischen Piratennetzwerke sind sogar immer noch zur See aktiv. Das heißt, man kann immer wieder beobachten, wie sie auch rausfahren und die Lage peilen, also was für sie möglich ist. Ansonsten sind sie  – soweit wir wissen  – aktiv im Waffen- , Drogen- oder Menschenschmuggel,. Sobald sie wieder die Freiräume und Möglichkeiten haben, zur See anzugreifen ohne eine starke Gegenwehr befürchten zu müssen, werden sie dies auch tun.“

Dennoch ist die Versuchung groß, das Piratenproblem am Horn von Afrika als erledigt zu betrachten. Denn die Kosten für ein bewaffnetes Sicherheitsteam an Bord  sind hoch. Sie schlagen  für eine einzige Passage durch das Hochrisikogebiet mit  rund 100.000 US-Dollar zu Buche – so die Angaben des  Verbandes Deutscher Reeder. Die Handelsschifffahrt gilt als hart umkämpfter Markt; das Interesse die Kosten zu senken, ist groß. Und bei EU und NATO haben der Konflikt mit Russland und die Flüchtlingskrise das maritime Interesse auf den  Nord-Atlantik und das Mittelmeer verlagert. Hier mit Flottenverbänden präsent zu sein, hat inzwischen Vorrang.

Hinzu kommt: Anti-Piraten-Missionen wie  ATALANTA bekämpfen nur das Symptom, nicht aber die Ursache des Problems. Somalia ist ein gescheiterter Staat, ein sogenannter Failed State.  Die schwache Regierung ist weit davon entfernt, landesweit funktionierende Ordnungskräfte aufzustellen. Und wo es sie gibt, bleiben sie weitgehend wirkungslos. Der Somalia-Kenner Stig Jarle Hansen: „Zurzeit erhalten die Sicherheitskräfte des Landes  rund 100 Dollar im Monat. Kann man davon leben? Nein! Wird man durch so eine niedrige Bezahlung korrupt? Ja! Und das hat  natürlich Folgen für das Vorgehen gegen  Piraten. Denn wenn man reiche Leute  vor Gericht bringen will, die Ermittler aber monatlich 100 Dollar verdienen, dann ist das verdammt schwierig.“

Stehende EU-Flottille am Horn von Afrika?

Die Piratennetzwerke haben sich inzwischen andere Einnahmequellen erschlossen. Und die schwache Zentralregierung in Mogadischu hat praktisch keine Möglichkeiten, das zu verhindern.  Notwendig wären vor diesem Hintergrund im Zusammenhang mit der Operation ATLANTA ganz neue Ansätze der EU.  Die Hamburger Piraterie-Expertin Petretto schlägt vor, künftig einen anderen  Schwerpunkt zu setzen: „Also ich denke auch, dass es tatsächlich eine Möglichkeit wäre, so etwas wie eine stehende Präsenz dort aufzubauen, auf geringem Niveau natürlich, aber mit einem breiteren Aufgabenspektrum, wie Waffenschmuggel, Menschenschmuggel und Drogenschmuggel. Aber natürlich soll es auch um eine  Evakuierung von Personen aus den Krisenregionen dort gehen.“

ATALANTA als stehende EU-Flottille am Horn von Afrika, die von der Basis Dschibuti aus operiert. Das könnte eine sinnvolle Strategie sein, um die Sicherheitsinteressen Europas in der Region zu wahren. So vorzugehen hätte drei Vorteile. Erstens: Die EU-Staaten müssten nicht mehr mit jeweils ein- oder zweijährigen Mandaten arbeiten, sondern könnten langfristig planen und so ihre begrenzten militärischen Fähigkeiten effektiver als bisher einbringen. Zweitens: Mandate können auslaufen, wenn es dafür in den Parlamenten keine politische Mehrheit mehr gibt. Die Abschreckungswirkung wäre schlagartig weg. Eine permanente Flotte würde dem vorbeugen und könnte weiterhin Piratenüberfalle verhindern. Und Drittens: ATALANTA gilt  inzwischen  als ein Leuchtturmprojekt der europäischen Sicherheitspolitik –  weil die EU in der Piratenfrage erstmals  geschlossenen  aufgetreten ist.  Aus der ATALANTA-Mission eine stehende EU-Flottille am Horn von Afrika zu machen, wäre daher der nächste logische Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen  Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ob die EU diesen Weg gehen wird,  bliebt allerdings vorerst noch offen. Klar ist aber auch: Obwohl es lange keine Überfälle mehr gegeben hat –  Das Piratenproblem am Horn von Afrika hat sich noch nicht erledigt. 

Den Beitrag gibt es auch als Radiopodcast auf „streitkräfte & strategien“ von NDR-Info.